Prolog



Prolog


* * *

Unzufrieden damit, dass Yssantis das Gespräch gerade in dem Moment unterbrach, als es besonders interessant zu werden schien, versuchte Konstantin Yssantis zum Fortführen der Geschichte zu animieren: „Für all diese Aufgaben wurde den Wächtern sicherlich auch Wissen anvertraut, das über das reine Feuermachen hinausging, richtig?“
„Korrekt. Wobei sich die Menschheit die Herrschaft über das Feuer übrigens vor 2,5 Millionen Jahren selbstständig beigebracht hat.“ Yssantis hatte geantwortet, ohne den Blick von seinem Buch zu heben. „Aber ja, die Engel erschaffen für die Wächter auf dem Planeten ein Portalsystem mit verborgenen Zugängen an vielen verschiedenen Punkten. Es wird Agartha genannt.“
„Agartha? Den Begriff kenne ich, wie ist das möglich?“ Konstantins Neugier war nicht mehr zu bremsen.
„Habt Ihr Euch nie gefragt, wie es sein kann, dass in der Bibel und auch in anderen Überlieferungen, die von Menschen geschrieben wurden, bestimmte Namen und Ereignisse auftauchen, die den Menschen gar nicht bekannt sein dürften? Die Frage hättet Ihr Euch bereits bei der Erwähnung Samaels stellen müssen.“
„Ich nehme an, dass die Engel auch zu anderen Zivilisationen auf der Erde Kontakt gehabt haben, und so im Laufe der Zeit daraus die Schriften entstanden sind?“, überlegte Konstantin.
„Teilweise richtig, aber es hat mehr mit dem Untergang der alten Zivilisation von Atlantis in Griechenland zu tun, dass diese Überlieferungen in der Welt verteilt wurden.“
„Die Geschichten über Atlantis sind also wahr? Wo lag denn diese Stadt?“ Die Aufregung in Konstantins Stimme war deutlich hörbar.
„Es wird Euch überraschen, aber es war nicht allzu weit von hier, im Ägäischen Meer.“ Yssantis machte eine beiläufige Handbewegung in Richtung Südwesten.
Konstantin grinste erneut bei dem Gedanken an mögliche Schätze. „Die ganze Zeit direkt vor der Haustür … Wird wohl an der Zeit sein, ein U-Boot seetüchtig zu machen.“
„Gebt Euch keine Mühe, Ihr werdet dort heute nichts mehr finden. Übrigens lag diese Stadt ursprünglich wie jede andere auch an der Erdoberfläche. Aber halten wir uns nicht mit Nebensächlichkeiten auf. Wie gesagt, die Engel erschaffen auf den Planeten ein Agartha-Netzwerk. Im Zentrum von Agartha befindet sich eine Stadt. In dieser Stadt ist es möglich, gänzlich vor der Außenwelt verborgen zu existieren. Die Menschen vermuteten diese Stadt irrtümlich in Tibet und gaben ihr den Namen Shangri-La, nach der Bezeichnung für einen Bergpass in Zentraltibet.“
„Shangri-La … nach dieser Legende haben schon so viele Entdecker und Abenteurer gesucht.“
„Zwecklos.“ Yssantis drehte sein Buch und schob es schräg über den Tisch, sodass Konstantin hineinschauen konnte. Auf der aufgeschlagenen Seite war eine Skizze zu sehen. Sie stellte etwas dar, das an einen großen Edelstein erinnerte. Die Oberfläche bestand aus einer Vielzahl asymmetrisch angelegter Facetten, deren Konturen dabei jedoch ganz scharf und exakt waren. Allein beim Betrachten dieser Skizze hatte Konstantin das Gefühl, als würde eine pulsierende Energie aus deren Innerem nach seinem Verstand greifen.
Yssantis fuhr fort und riss Konstantin jäh aus dem Bann dieses Edelsteins.
„Der Zugang zu Agartha wird nur durch ein Relikt der Engel selbst ermöglicht. Ein einziges Lichtprisma wird dem Wächtervolk übergeben.“
Konstantin hatte seine Gedanken indessen erneut gesammelt. „Also lebt das geheime Volk der Wächter in Shangri-La?“
„Keineswegs“, entgegnete Yssantis. „Das Wächtervolk soll seine eigene Zivilisation nicht aufgeben. Auch auf der Erde haben die Wächter eine Stadt. Durch die Technologie der Engel blieb sie aber dem Rest der Menschheit verborgen.“ Yssantis hob leicht den Kopf und sah Konstantin geheimnisvoll aus dem Augenwinkel an. „Vielleicht führe ich Euch eines Tages mal dorthin.“
Über Konstantins Lippen huschte ein Lächeln. Zwar wusste er, dass Yssantis selten zu Scherzen aufgelegt war und diesen Vorschlag somit durchaus ernst meinte, aber er war dennoch nicht besonders erpicht darauf, ein Volk aufzusuchen, das in näherem Kontakt zu seinem jüngsten Feind stand. „Warum wohnen die Wächter nicht dauerhaft in Agartha und verlassen es nur dann, wenn es nötig ist?“, fragte er lieber.
„Warum lasst Ihr in Eurer Stadt Wachen patrouillieren und setzt sie nicht alle in einen Raum mit Hunderten von Monitoren, um alles zu überwachen?“, konterte Yssantis, wobei er sich an die Gardisten erinnerte, die sich lieber mit einem Fass Bier beschäftigten als mit umgestürzten Laternen. „Auch wenn Eure Stadtgarde womöglich etwas mehr Disziplin nötig hätte, erfüllt sie doch ihren Zweck. Präsenz im Weltgeschehen zu zeigen ist wichtig. Zwar altert man nicht, solange man sich in Agartha aufhält, doch bringt es auch nichts, seinen Alltag im Exil zu fristen. Die Zeit vergeht im Inneren von Agartha mit der gleichen Geschwindigkeit wie außerhalb.“
„Warum wurde den Wächtern nur ein einziger Schlüssel anvertraut?“
„Ein einziges Artefakt ist leichter zu hüten als mehrere, es wird als göttlicher Schatz betrachtet. Der Machtstein durfte nicht in andere Hände als die der Wächter gelangen. Darüber hinaus mussten auch die Wächter kontrollieren können, wer Agartha zu welchem Zweck benutzte. Dieses Vorgehen der Götter war – wie gesagt – noch sehr neu, die Lhon’Dar haben noch nicht alles herausfinden können. Aber ich überlasse Euch gern den Vortritt, solltet Ihr gewillt sein, den Rest höchstpersönlich zu erforschen“, erklärte Yssantis. „Was ich Euch allerdings noch mitteilen kann, ist, dass die Wächter diesen Stein jederzeit orten können, sollte er verloren gehen.“
Konstantin ignorierte die letzte Bemerkung seines Gesprächspartners: „Habe ich von diesem Lichtprisma schon jemals gehört?“
„Das kommt darauf an. Die Wächter auf der Erde nannten es einfach Machtstein. Ihr könntet aber tatsächlich davon gehört haben, denn der Machtstein war beispielsweise kurzzeitig in Napoleons Besitz.“
„Napoleon? Wie kam der zu diesem Stein?“
„Er selbst relativ leicht. Um einiges interessanter wäre die Frage, wie die Wächter den Stein verloren hatten. Aber wir werden noch oft Gelegenheit haben, uns über alte Geschichten zu unterhalten, wenn ich in Eurer Stadt erneut Rast suche.“
„Ihr seid hier immer willkommen, lieber Yssantis, das wisst Ihr. Aber die Wächter … haben sie auch Waffen bekommen?“ Sie waren endlich an dem Punkt der Geschichte angekommen, der Konstantin am meisten reizte.
„Waffen sind notwendig, falls es zum Aufstand anderer Zivilisationen auf dem Planeten kommt. Entsprechende Technologien wurden den Wächtern übergeben. Falls Ihr jedoch übermächtige Waffentechnologien erwartet, muss ich Euch leider enttäuschen. Die Engel würden den Wächtern keine Waffen anvertrauen, die den Engeln oder Göttern selbst gefährlich werden könnten. Für die restliche Population des Planeten waren sie aber vollkommen ausreichend.“
Konstantin lauschte Yssantis’ Worten mit Spannung. Mit der Aussicht auf außerirdische Waffen wirkte das Angebot, die geheimnisvolle Stadt der Wächter aufzusuchen, gar nicht mehr so einschüchternd auf ihn. „Wer waren nun also die Wächter hier auf der Erde?“
„Es gab zwei hochentwickelte Zivilisationen, als die Engel 3 500 vor Christus zur Auswahl des Wächtervolkes auf die Erde kamen: Atlantis und Icnun. Sie vertrauten beiden die Technologien als eine Art Prüfung an, und die Engel überwachten die Entwicklung beider Völker durch häufige Besuche, denn schließlich war das Verfahren nach der Erntereform noch sehr neu. Auch halfen sie der Entwicklung der Menschheit schon vorher dadurch, ihnen Wissen über Bewässerungssysteme, Ackerbau, in rudimentärer Form auch über Architektur und Ingenieurswesen zu vermitteln. Technologie beschleunigt immerhin den Entwicklungsprozess eines Planeten und führt schneller zu einer ausreichenden Population.
3 114 vor Christus entschieden die Icnun dieses Auswahlverfahren schließlich für sich.“
Langsam, aber sicher begriff Konstantin die Zusammenhänge und begann zu mutmaßen: „Ihr habt vorhin von Boten berichtet, die von den Engeln auf die Planeten geschickt werden, um die Zivilisationen zu einen. Es gab viele Propheten auf der Erde, ich nehme aber an, dass die Engel nicht für alles verantwortlich waren. Vieles liegt auch in der Mythologie der Menschheit selbst begründet. Könnt Ihr mir verraten, wen die Engel für diese Aufgabe auf die Erde entsandt haben?“
„Es sind Momente wie diese, die mir bewusst machen, dass es durchaus Eure Scharfsinnigkeit ist, aufgrund derer Ihr Euch das hier alles aufbauen konntet … und aufgrund derer ich mich speziell für Euch als denjenigen entschieden habe, mit dem ich mein Wissen teile, Konstantin. Die Menschen nannten diesen Propheten Jesus. Sein Vorhaben verlief auf der Erde aber nicht sonderlich erfolgreich. Wie übrigens auch das der Wächter nicht.“
„Ob sein Vorhaben erfolgreich war oder nicht, spielt gar keine Rolle mehr, glaube ich“, bemerkte Konstantin sichtlich empört. „Der Großteil der Menschheit wurde von der Erntesphäre im Orbit ja wohl … aufgesogen.“
„‚Entrückt‘ ist der Begriff, den Ihr sucht“, erwiderte Yssantis, ohne sich von den Emotionen seines Gegenübers anstecken zu lassen. „Zumindest habt Ihr Menschen diesen Begriff in Euren Mythologien festgehalten. Und außerdem, Ihr habt einen Engel ausgeschaltet. Seid froh, dass Eure Zivilisation gewohnt ist, zu kämpfen. Und Ihr persönlich habt davon ja wohl auch sichtlich profitiert.“
Konstantin beruhigte sich, als Yssantis’ Worte zu ihm durchdrangen.
„Tja, die Ironie der Menschheit“, scherzte er, nun wieder vergnügt.
Beide verstummten, als der schwere Samtvorhang an der Eingangstür zur Seite geschoben wurde und zwei Gestalten die ansonsten leere Bar betraten. Mara huschte aufgeregt aus dem Hinterzimmer hervor, wo sie ein neues Bierfass an die Zapfanlage angeschlossen hatte.
Die beiden Neuankömmlinge durchschritten die Bar und setzten sich an den Tresen. Ihre langen Schusswaffen waren ohne sichtbare Befestigung am Rücken angebracht und hingen hinten entlang der Barhocker nach unten. Die Rüstungen schimmerten graublau, und auf den Rücken und Vorderarmen glühten die Kammern der eingebauten Energieversorgung in einem leichten Orangeton. Als sie sichtlich erleichtert ihre Helme abnahmen, war Mara bereits mit zwei frisch eingeschenkten Bieren zur Stelle.
Konstantin fiel Yssantis’ wachsamer Blick auf. „Macht Euch keine Sorgen, die wenigen Soldaten der New World Order werden meine Stadt morgen wieder verlassen. Außerdem haben sie geholfen, die Stadt zu verteidigen. Aber sagt mir, wo sind die Lhon’Dar jetzt? Und Ihr habt mir noch gar nicht beschrieben, wie sie aussehen!“
„Ich würde es vorziehen, unser Gespräch für heute zu beenden, lieber Konstantin. Aber sicherlich habt Ihr in Eurer Jugend von einem recht ungewöhnlichen Asteroiden namens Oumuamua gehört. Mit diesem Gebilde kam der erste Trupp der Lhon’Dar auf die Erde und auf Nibiru, während ihr Mutterschiff knapp außerhalb des Asteroidengürtels verweilte. Anlass war das Erntesignal der Wächter, das diese 2012 auf den Weg gebracht und das die Lhon’Dar abgehört hatten.“
Yssantis blätterte ein letztes Mal in seinem Buch, nahm einige Seiten heraus und legte sie vor Konstantin hin. „Ich habe noch ein paar Aufzeichnungen für Euch vorbereitet. Lest sie bei Gelegenheit. Und ich danke Euch für die stets perfekte Gastfreundschaft.“
Mit diesen Worten erhob sich Yssantis vom Tisch und durchschritt den Raum in Richtung der Treppe, die zu den Gästezimmern nach oben führte, von denen eins immer für ihn bereitstand.
Konstantin war von der Abbildung auf dem Blatt Papier derart gebannt, dass er beim Fortgehen seines Freundes schwieg. Das Bild einer dämonenartigen Gestalt verschlug ihm die Sprache.

Fortsetzung folgt...