Prolog



Prolog


Die Feuer nach dem Angriff waren größtenteils gelöscht. Yssantis schritt zwischen den engen Häuserschluchten hindurch, und ein starker Wind peitschte seinen Umhang herum. In den Straßen lagen Laternenmasten und entwurzelte Bäume, etliche Mauern waren eingestürzt. Nach und nach wurde das Trümmerfeld von einzelnen Einwohnern der Stadt geräumt, doch sie taten es fast schon andächtig langsam. Das Chaos hatte sich gelegt, nur hier und da brüllten Stadtgardisten noch vereinzelte Befehle und Arbeitsanweisungen.
Der Abend dämmerte bereits, doch es schien ohnehin niemand Yssantis zu beachten. Trotzdem versuchte er, möglichst unbemerkt zu bleiben. Er hieß die wachsenden Schatten zwischen den Häusern willkommen und schritt geräuschlos durch die herumliegenden Trümmer. Als sich sein Umhang an einem noch glimmenden Stück Holz verfing und versengt wurde, fluchte er innerlich.
Die Straßen waren in den blutroten Schein der untergehenden Sonne getaucht, und die meisten Menschen suchten aus Angst vor einer Wiederkehr der unbekannten Angreifer noch in ihren Häusern Schutz.
Die verlassene Straße mündete in einen großen Platz.
Yssantis blieb stehen und hielt einen Moment inne, um die Umgebung zu betrachten.
Er war seinem Ziel schon nahe.
Mit seiner schuppigen Hand schob er sich die Kapuze etwas aus dem Gesicht, die ihm immer wieder nach unten rutschte. Obwohl sie sein Sichtfeld einschränkte, hatte er in der Vergangenheit gelernt, dass Anonymität nützlicher war als Bequemlichkeit.
Inzwischen war er am Marktplatz angekommen.
Wo sonst immer reges Treiben herrschte, ähnelte der Platz nun einer der zahllosen Geisterstädte in den Außenbezirken. Der harsche Wind pfiff durch die Gassen und fegte gespenstisch den Staub über den Platz. Die Statue in der Mitte des Marktplatzes war unversehrt geblieben und thronte erhaben in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne.
Yssantis wandte sich mit einem Seufzen von dem Anblick ab und verschwand in einer Seitenstraße zu seiner Linken.
Er setzte seinen Weg fort, vorbei an weiteren Trümmerhaufen, die von dem Gefecht vor wenigen Tagen zeugten. Drei Stadtgardisten drehten sich kurz zu ihm um, setzten dann aber unbekümmert ihre Unterhaltung fort, während sie einige Fässer Bier aus einem zerstörten Geschäft auf ihren Wagen luden. In einiger Entfernung erkannte Yssantis das Schild eines alten Hotels – er war am Ziel. Stumm fragte er sich, ob sein Gesprächspartner es wohl trotz der Unruhen pünktlich schaffen würde.
Yssantis wäre gar nicht hier gewesen, hätte es diesen Angriff nicht gegeben. Er war hergekommen, um seinem alten Freund die Ereignisse ein Stück weit begreiflicher zu machen.
Vor den Stufen des Hotels blieb Yssantis stehen und nahm das Gebäude von außen in Augenschein. Die rote Klinkerfassade des mehrstöckigen Gebäudes war mit runden kleinen Korbmarkisen über den Fenstern verziert, an deren unterem Rand helle Volants saßen. Einst im gleichen Farbton hergestellt wie die Fassade, war ihr Stoff inzwischen verblichen. Einige der Fenster erstreckten sich über die gesamte Höhe eines Stockwerks, mit eisernen, filigran verzierten Brüstungen davor. Während in den oberen Geschossen die Gästezimmer des ehemaligen Hotels lagen, hob sich das Erdgeschoss mit großen, durch anthrazitfarbene Säulen unterteilte Fenstersegmente davon ab, hinter denen sich eine Bar befand. Die oberen Stockwerke lagen überwiegend im Dunkeln, doch aus den Fenstern der Bar drang ein warmes und schummriges Licht. Letzteres gefiel Yssantis dabei besonders gut. Er schritt die Stufen zum Eingang hinauf und bemerkte eine kleine Fahne mit dem Stadtwappen von Konstantinopol, die über der Eingangstür befestigt war und die nun emsig im Wind flatterte. Hinter der Tür empfing ihn ein schwerer Samtvorhang, den Yssantis mit einer beiläufigen Handbewegung beiseite schob. In der Bar war es angenehm warm, und der Duft aus der Küche ließ Yssantis für einen Augenblick vergessen, dass sein Besuch durchaus von Schwere geprägt war.
„Yssantis!“, hallte es aus der rechten hinteren Ecke. „Schön, dass Ihr es trotz der Lage in dieser Stadt noch pünktlich geschafft habt!“
Ohne sichtliche Reaktion bewegte sich Yssantis in Richtung der erfreuten Stimme. Sie gehörte zu einem Mann mittleren Alters mit einem ungewöhnlichen, wenn nicht gar extravaganten Kleidungsstil. Den Oberkörper zierte eine offene Jacke, deren Kragen und Saum mit Pelz besetzt waren, und die ihm breite Schultern verlieh. Das Hemd darunter hing ihm lose über die Hüften, nur vorn war es in die Hose gesteckt, sodass man die Gürtelschnalle mit dem auffälligen Wappen deutlich erkennen konnte. Die schwarze Hose bestand aus einzelnen gefütterten und abgesteppten Segmenten, und die Füße steckten in sportlichen Sneakers.
„Ihr werdet Euch vielleicht wundern, Konstantin, aber ich habe mir auf dem Weg hierher die gleiche Frage Euch betreffend gestellt. Auch würde ich es vorziehen, meine Anwesenheit nicht Eurer gesamten Stadt kundzutun.“
Kaiser Konstantin musterte Yssantis und deutete amüsiert auf den versengten Umhang: „Ich sehe, auch Ihr habt den Angriff nicht gänzlich unbeschadet überstanden.“
Yssantis ließ diese Bemerkung unkommentiert stehen und nahm stattdessen schräg gegenüber von Konstantin in einem Sessel Platz. Er setzte sich wie gewohnt mit dem Rücken zur Wand, um immer das Geschehen ringsum beobachten und das Flair der alten, rustikalen Bar genießen zu können.
Im Hauptteil des Raums standen entlang der Wände gemütliche Lounge-Sitznischen mit sandfarbenen, gut gepolsterten Sesseln und runden, kastanienroten Holztischen. Direkt gegenüber dem Eingang befand sich mittig ein langer Steintresen mit hohen Barhockern davor. Links neben dem Tresen führte eine Tür zu einem Hinterzimmer und zur Küche, aus der das Klappern von Töpfen zu hören war. Auf der rechten Seite erstreckte sich der Raum weit nach hinten, wo im Halbdunkel eine Treppe in die oberen Etagen erkennbar war.
Kunstvoll gearbeitete Hängeleuchter erzeugten das warme und wohlige Licht, und ein großer Holzofen an der hinteren Wand sorgte für eine angenehme Temperatur in der Bar.
Zwischen den einzelnen Sitznischen sorgten Regalwände voller Antiquitäten für mehr Privatsphäre, und an den Wänden hingen verschiedene kostbare Gemälde. Beides hatte Konstantin teils während seines früheren Lebens, teils nach dem Umbruch der Welt erbeuten können.
Konstantin selbst war in einer wohlhabenden Familie im ehemaligen Istanbul aufgewachsen. Früh hatte er sich an den Geschäften seines Vaters beteiligt und erfolgreich Kontakte geknüpft, die in allen möglichen Lebenslagen von großem Nutzen sein konnten. Nach dem Umbruch in der Welt hatte er nicht lange gezögert, das Machtvakuum zu füllen und in seiner Heimatstadt eine exklusive Zufluchtsstätte zu schaffen. Er benannte die Stadt in ‘Konstantinopol’ um und ernannte sich selbst zum Kaiser.
„Ihr seid hier sozusagen in meinen Privatgemächern“, fuhr Konstantin fort. „Niemand wird mit dem Wissen um Eure Anwesenheit hausieren gehen, dafür genießen wir unsere gegenseitige Bekanntschaft bereits seit zu langer Zeit. Und aus ebendiesem Grund weiß ich, dass Eure Besuche zwar nicht von großer Häufigkeit geprägt sind, doch von umso größerer Relevanz! Ich kann kaum erwarten, was Ihr mir heute berichten werdet!“
Yssantis gab der Bedienung hinter dem Tresen ein Zeichen, ihm ein Bier zu bringen, und erwiderte: „Zügelt Eure Freude, Konstantin, es wird kein leichter Abend für Euch werden. Ich bin hier, weil ich von dem Angriff auf Konstantinopol erfahren habe. Ich dachte mir, dass Ihr es vorziehen würdet zu erfahren, was diese Zerstörung verursacht hat und wie Ihr Euch in Zukunft besser auf so etwas vorbereiten könnt.“
Kaiser Konstantin reagierte auf die Worte von Yssantis mit Bestürzung.
„Dann wird das jetzt also öfter vorkommen? Diesmal hatten wir wohl noch Glück. Es schien nur einer zu sein, und nur wenige Straßenzüge wurden bei dem Kampf verwüstet.“
„Das stimmt wohl“, erwiderte Yssantis. „Diese bodenlose Geschmacklosigkeit auf dem Marktplatz – Eure Statue – ist anscheinend unbeschadet geblieben.“
Konstantin lachte laut auf: „Jeder Mensch hat seine Marotten, lieber Yssantis.“
„Ihr vergesst, ich bin kein Mensch, lieber Konstantin.“
Die Bedienung, die gerade das bestellte Bier brachte und die Worte überhörte, zeigte sich davon in keiner Weise beeindruckt und schritt unbeirrt wieder davon.
Viel war von Yssantis ohnehin nicht zu erkennen. Sein Oberkörper wurde von einem graublauen Tuch verhüllt, das von einer silberfarbenen Brosche gehalten wurde und das zugleich die Kapuze bildete. Unter dem Tuch trug er einen langen braunen Mantel mit dunklem Saum. Um seine Brust spannten sich mehrere Gürtel mit kleinen Taschen, die diverse Beutestücke von seinen Reisen enthielten. Am linken Unterarm leuchtete jedes Mal ein geheimnisvolles Muster auf, wenn er mit der anderen Hand darüberstrich. Das Bemerkenswerteste an seiner Erscheinung war jedoch sein Gesicht, obwohl sich der Ausdruck darauf kaum deuten ließ. Die spitz zulaufende Gesichtsform, die schuppige Haut und die gelblich schimmernden Augen erinnerten an ein Reptil, was einen durchaus aus der Fassung bringen konnte, wenn man auf den Anblick nicht vorbereitet war.
Yssantis blickte auf die wohlgeformte Schaumkrone hinunter, die über den Rand des Kruges quoll, und fragte andächtig: „Habt Ihr es richtig sehen können, Konstantin? Ich meine, mit eigenen Augen? Und habt Ihr es zerstören können?“
Ein dunkler Schatten schien über Konstantins Gesicht zu huschen, und seine Miene wirkte plötzlich ungewohnt ernst.
„Diese Gestalt hat auf jeden Fall eine Menge einstecken können. Unsere Munitionslager wären nach nur wenigen solcher Angriffe komplett erschöpft. Die Erscheinung … sie war furchteinflößend. Sie bewegte sich vollkommen geräuschlos, mit einer Aura, die das Licht zu absorbieren schien. Sie hüllte alles um sich herum in völlige Finsternis und strahlte selbst umso heller in einem blendenden, goldenen Schein, fast wie ein …“
„Wie ein Engel?“, unterbrach ihn Yssantis.
„Ja, die Bezeichnung ist äußerst treffend. Wir wollten dieses verdammte Wesen untersuchen, nachdem es endlich reglos am Boden lag, doch es schoss mit einem Lichtstrahl in den Himmel, zu diesem … kolossalen Ding, das sich seit zwei Jahren im Erdorbit befindet.“
Yssantis streifte sich langsam seine Kapuze vom Kopf und begann, seinem Freund die Hintergründe zu erläutern.

* * *